Synthetische Chemikalien, Plastikmüll & Co: Überladung mit neuartigen Stoffen

In unserer von Konsum geprägten Zeit nimmt nicht nur die Menge abgelagerten Mülls weltweit zu. Auch wächst der globale Chemie- und Kunststoffmarkt, in dem Deutschland nach China und den USA der drittgrößte Player ist, nach wie vor dynamisch. Hunderttausende synthetische Chemikalien und Substanzen werden heutzutage produziert.

Eine gelbe Flüssigkeit tropft aus einer Pipette in ein gläsernes Gefäß © Fulvio Ciccolo / Unsplash

Allein im Zeitraum 1950 bis 2015 wurden auf dem Globus mehr als 8 Milliarden Tonnen Kunststoff hergestellt, meist aus Erdöl und Erdgas. Dazu kommen jährlich etwa 400 Millionen Tonnen Kunststoffe hinzu, Tendenz steigend. Nur etwa 10 % des jemals hergestellten Plastiks wurde recycelt. Nach wissenschaftlichen Studien soll die Recyclingquote von Plastikverpackungen, die den Großteil der Kunststoffproduktion ausmachen, weltweit bei etwa 14 % liegen. Etwa 40 % landen auf Mülldeponien und etwa 14 % in Verbrennungsanlagen. Das restliche Drittel gelangt in die Umwelt.

Nach dem Konzept der Planetaren Grenzen sind neuartige, menschengemachte Einträge wie synthetische Chemikalien und Substanzen (Mikroplastik, endokrine Disruptoren, persistente organische Schadstoffe), künstliche radioaktive Stoffe wie Atommüll, aber auch genetisch veränderte Organismen und andere Eingriffe in die Evolutionsprozesse unter der Überschrift „Überladung mit neuartigen Stoffen“ subsumiert. Weltweit gesehen ist ein Teil dieser neuartigen Stoffe keiner Sicherheitsuntersuchung unterzogen worden. Selbst in der relativ streng reglementierten EU, einem kleinen Teil des „chemischen Universums“, sind nach Person et al. (2022) in „Environ- mental Science & Technology“ etwa 10.000 der 12.000 chemischen Nicht-Zwischenprodukte, die nach der Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe REACH geführt und seit mindestens 10 Jahren im Einsatz sind, noch nicht bewertet worden. Zu vielen dieser Stoffe ist über die potenziellen Auswirkungen auf die Erdsystemprozesse wenig bekannt. Das gilt erst recht für Mischungstoxizitäten, die kombinierte Wirkung mehrerer chemischer Stoffe. Die Welt ist wiederholt von den Folgen des Einsatzes neuartiger Stoffe negativ überrascht worden: zum Beispiel durch die schädliche Wirkung des Insektizids DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) auf Mensch und Tier oder von FCKW (Fluorchlorkohlenwasserstoffen) auf die vor ultravioletter Strahlung schützende Ozonschicht.

Mikroplastik, synthetische endokrine Disruptoren, persistente organische Schadstoffe

Als Mikroplastik werden Kunststoffpartikel bezeichnet, die kleiner als 5 Millimeter sind. Man unterscheidet primäres Mikroplastik, das unter anderem durch das Waschen von synthetischen Materialien, den Abrieb von Reifen (allein in Deutschland etwa 150.000 Tonnen pro Jahr) und Kosmetika freigesetzt wird, und sekundäres Mikroplastik, das durch Verwitterung und Fragmentierung entsteht, vor allem durch unsachgemäß entsorgten Kunststoff wie Verpackungsmaterial, das in Gewässer gelangt. Da Mikroplastik nicht oder nur sehr langsam abgebaut wird, kommt es zu Umweltbelastungen und Veränderungen in der Ökologie. Auch wenn sich viele Studien mit der Exposition, der Aufnahme und dem Verbleib von Mikroplastik in Organismen beschäftigten, sind noch viele Fragen ungeklärt. Fest steht aber, dass Mikroplastik in fast allen menschlichen Organen und Geweben nachweisbar ist.

Endokrine Disruptoren sind Substanzen, die, nachdem sie in den Körper von Lebewesen gelangen, durch Einwirkung auf das Hormonsystem die Gesundheit schädigen können. Dazu zählen auch bestimmte PFAS-Chemikalien (per- und polyfluorierte Alkyverbindungen). Endokrine Disruptoren kommen nicht selten in Produkten wie Verpackungs- material, Spielzeug, Elektronikartikeln, Baustoffen, Textilien, Arzneimitteln und Kosmetika, in Löse- und Schmiermitteln sowie in Pestiziden vor. Die medizinische Fachgesellschaft Endocrine Society sieht es als erwiesen an, dass endokrine Disruptoren beim Menschen zur Entstehung von Krebs, Unfruchtbarkeit, Diabetes, Herz-, Blutgefäß- und Schilddrüsenerkrankungen sowie neurologischen Erkrankungen beitragen können.

Persistente organische Schadstoffe sind besonders langlebige chemische Verbindungen. Sie verschmutzen – wenn sie unsachgemäß in die Umwelt gelangen – Luft, Boden und Wasser, gelangen selbst in entlegene Gegenden wie Antarktis und Himalaja und können über die Nahrungskette in den menschlichen Körper gelangen. Bekannte Vertreter sind neben Pestiziden wie DDT Industriechemikalien wie Polychlorierte Biphenyle (PCB) sowie bei Verbrennungsprozessen entstehende Dioxine, Furane und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe. Auch sie können zum Beispiel an einem erhöhten Krebsrisiko, neurologischen Erkrankungen, Fortpflanzungsstörungen, Geburtsfehlern und Beeinträchtigungen des Immunsystems mitwirken.

Die Planetare Grenze für die Überladung mit neuartigen Stoffen gilt als überschritten. Als Kontrollvariable für diese Planetare Grenze ist für synthetische Chemikalien, die ohne eine angemessene Sicherheitsprüfung in die Umwelt gelangen, ein Wert von 0 % festgelegt und von einem internationalen Wissenschaftsteam um Katherine Richardson in „Science Advances“ vorgestellt worden. Für Mitautor Johan Rockström, Erstautor bei der Vorstellung der Planetaren Grenzen und Co-Präsident des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, gehört die Überladung mit neuartigen Stoffen zusammen mit der Veränderung in der Integrität der Biosphäre und dem Klimawandel zu den 3 wichtigsten Themen für die Zukunft der Menschheit.

Studien zu Nordrhein-Westfalens Beitrag an der Überladung mit neuartigen Stoffen gibt es noch nicht. Ein Anteil an der Überladung dürfte aber gewiss sein, nicht nur wegen der genannten Argumente und der Tatsache, dass das Land mit rund 1.900 Unternehmen, 200.000 Beschäftigten und 50 Milliarden Euro Branchenumsatz jährlich der bedeutendste Chemiestandort Deutschlands und Kunststoffregion Nummer 1 in Europa ist. Es ist zugleich ein hochindustrialisierter Standort mit kerntechnischen Anlagen und giftigen Ewigkeitslasten, hier entstehen laufend gefährliche Abfälle, persistente organische Schadstoffe, Reifenabrieb von 12,6 Millionen gemeldeten Kraftfahrzeugen und vieles mehr. Daher ist es sehr wichtig, dass alle entsprechenden Akteure weiter daran arbeiten, dass Gefahren und Risiken für Mensch und Umwelt durch emittierte Stoffe minimiert werden.