Weniger wird mehr? Rote Listen, Artenvielfalt und Landschaftsqualität
Weniger wird mehr? Neue Rote Listen, Artenvielfalt und Landschaftsqualität
Dem letzten globalen Assessment der Biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen des Weltbiodiversitätsrats IPBES aus dem Jahr 2019 ist zu entnehmen, dass sich der Zustand der Biodiversität dramatisch verschlechtert hat und etwa eine Million Arten auf unserem Planeten zurzeit vom Aussterben bedroht sind.
© Axel Sand Eine im November 2023 veröffentlichte große Studie eines internationalen Forschungsteams, das die Roten Listen Europas und neueste Daten analysierte, folgerte anhand von Extrapolationen, dass sogar etwa 2 Millionen Arten auf der Erde vom Aussterben bedroht sind.
Ende 2023 stellte die Weltnaturschutzunion IUCN die aktuelle Rote Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten vor, ein weiteres Zeugnis für den Zustand unseres Planeten: 28 % der erfassten Arten sind so dezimiert, dass sie vom Aussterben bedroht sind. Darunter fallen unter anderem etwa 70 % der Palmfarne, 41 % der Amphibien, 37 % der Haie und Rochen, 36 % der Korallen, 34 % der Nadelbäume, 28 % der Krebstiere, 26 % der Säugetiere, 25 % der Süßwasserfische, 21 % der Reptilien, 16 % der Insekten und 12 % der Vögel.
In Nordrhein-Westfalen sind mehr als 43.000 verschiedene Tier-, Pilz- und Pflanzenarten heimisch – mehr als die Hälfte aller in Deutschland vorkommenden Arten. Diese Artenvielfalt ist das Ergebnis von 2 großen, sehr unterschiedlichen Naturräumen: dem atlantisch geprägten Tiefland und dem kontinental geprägten Bergland mit einer Vielzahl teils naturnaher, teils intensiv genutzter Lebensräume. Die Erhaltung der Biodiversität ist Kernaufgabe des Naturschutzes.
Biodiversitätsstrategie Nordrhein-Westfalen
Die Biodiversitätsstrategie aus dem Jahr 2015 ist die fachliche Grundlage für Projekte und Maßnahmen des Natur- und Artenschutzes im Land. Sie trägt zur Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt aus dem Jahr 2007 sowie zur Erreichung der internationalen und europäischen Biodiversitätsziele bei. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist eine große Aufgabe für den Staat und das Gemeinwesen. Wir alle sind aufgerufen, einen Teil zur Bewahrung der Schöpfung beizutragen. Die neue Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt 2030 wurde im Dezember 2024 vom Bundeskabinett verabschiedet, auf deren Grundlage die Landesstrategie fortgeschrieben wird.
Ein Gradmesser für die Artenvielfalt in Nordrhein-Westfalen ist der Umweltindikator Gefährdete Arten. Er basiert auf den Roten Listen der gefährdeten Pflanzen, Pilze und Tiere des Landes, die nach den Gesamtfassungen 1979, 1986, 1999 und 2011 fortan als Einzelwerke seit dem Jahr 2021 herausgegeben und sukzessive veröffentlicht werden. Im aktuellen Erhebungszyklus des Indikators sind bislang die Artengruppen Farn- und Blütenpflanzen, Armleuchteralgen, Rotalgen und Braunalgen, Brutvögel, Fische und Rundmäuler, Schmetterlinge, Laufkäfer, Steinfliegen, Eintagsfliegen sowie Köcherfliegen abgeschlossen, weitere werden in Kürze folgen. Demnach fiel der Anteil der Rote-Liste-Arten im Jahr 2024 mit 44,4 % (vorläufiger Wert) deutlich höher und besorgniserregender aus als noch bei der Ersterhebung 1979 mit 37,9 %. Er fiel aber auch etwas geringer aus als bei der Vorerhebung 2011 mit 46,3 %. Als ausgestorben oder verschollen gelten derzeit 8,3 % der 3.672 für den Indikator beobachteten Arten. Als vom Aussterben bedroht, sodass sie in absehbarer Zeit ausstürben, wenn die Gefährdungsursachen fortbestehen, gelten 8,0 %. Stark gefährdet sind 11,6 % der Arten und gefährdet sind 13,8 %.
Um die prominente Artengruppe der Brutvögel zu beleuchten: Die 7. Fassung der Roten Liste der Brutvögel in Nordrhein-Westfalen wurde im Jahr 2023 veröffentlicht. Sie betrachtet für den Zeitraum 2011 bis 2016 die etablierten einheimische Arten, 190 an der Zahl, von denen hier derzeit nur noch 166 regelmäßig brüten. 100 Arten sind in einer der Gefährdungskategorien vertreten, mehr als die Hälfte der etablierten Brutvogelarten des Landes (gegenüber der 6. Fassung aus 2016 ist die Zahl um 7 gestiegen) 24 Arten sind hierzulande ausgestorben oder verschollen, darunter beispielsweise das Birkhuhn, die Haubenlerche die Rohrdommel und die Zwergseeschwalbe. 23 Arten sind vom Aussterben bedroht, 16 stark gefährdet und 24 gefährdet. Die Bilanz der neuen Roten Liste fällt nicht gut aus, da bei vielen Arten keine Trendumkehr zu erkennen ist. Insbesondere die Agrarlandschaft (Offenland) und Sonderstandorte (Moore und Heiden) weisen hohe Anteile gefährdeter Brutvögel auf. Für Arten wie Turteltaube, Uferschnepfe, Bekassine, Kiebitz und Rebhuhn hat sich die Lage weiter verschlechtert, während Arten der Wälder und Siedlungen Zu- und Abnahmen verzeichneten. Bei Brutvogelarten, die als Haupthabitat den Gewässern zuzuordnen sind, konnte eine Zunahme oder zumindest eine Stagnation der Bestände beobachtet werden. Trotz allem sind auch letztere mit vielen Vertretern wie Krickente, Großer Brachvogel, Trauerseeschwalbe und Uferschwalbe gelistet. Die bisherigen Anstrengungen waren nicht ausreichend, um den Gefährdungen unserer Brutvögel entgegenzuwirken. Es sind verstärkte Bemühungen im Natur- und im Artenschutz notwendig, besonders in der Agrarlandschaft, um den Artenverlust und die Bestandsrückgänge aufzuhalten.
© MUNV NRW Umweltindikator Gefährdete Arten
Der Indikator basiert auf den Roten Listen der gefährdeten Pflanzen, Pilze und Tiere in Nordrhein-Westfalen. Er zeigt den Anteil der Rote-Liste-Arten an der Gesamtzahl der bewerteten Arten nach Gefährdungskategorien. Einbezogen sind jene Arten, die in allen 5 Erhebungen bewertet wurden und die Arten, die mindestens 3-mal in Folge bewertet wurden. Der vorläufige Anteil der Rote-Liste-Arten fiel im Jahr 2024 mit 44,4 % deutlich höher aus als bei der Ersterhebung 1979 mit 37,9 %, aber etwas geringer als 2011 mit 46,3 %. Als ausgestorben oder verschollen gelten derzeit 8,3 % der beobachteten Arten. Ein Trend lässt sich aus den 5 Erhebungen noch nicht ableiten. Ziel der Landesregierung ist es, den Anteil der Rote-Liste-Arten bis zum Jahr 2030 auf 40 % zu senken.
Ein weiterer Gradmesser für das Naturerbe und den Naturschutz ist der Indikator Artenvielfalt und Landschaftsqualität. Er wurde kürzlich für Nordrhein-Westfalen an die überarbeitete Methodik des Bundes angepasst und mit neuen Zielen hinterlegt. Letztere wurden ermittelt auf Grundlage von Landschaftsszenarien mit einer nach haltigen Landnutzung, abgeleitet unter anderem aus der EU-Biodiversitätsstrategie, dem Bundes- und Landesnaturschutzgesetz sowie der Biodiversitätsstrategie und dem Klimaschutzplan Nordrhein-Westfalens.
© MUNV NRW Umweltindikator Artenvielfalt und Landschaftsqualität
Der im Jahr 2024 grundlegend überarbeitete Indikator zeigt anhand der Bestandsentwicklung von 43 repräsentativen Brutvogelarten, wie sich die Artenvielfalt und Landschaftsqualität in Nordrhein-Westfalen entwickelt. Der Gesamtwert liegt mit 70 % noch weit von dem für 2030 festgelegten Zielwert entfernt. Sein Trend ist über die letzten 10 Jahre ebenso negativ wie für alle 4 Hauptlebensraumtypen: Für das knapp die Hälfte der Landesfläche ausmachende Agrarland (Gewichtungsfaktor 0,46) fiel der Zielerreichungsgrad auf 67 %, für den Wald (Gewichtungsfaktor 0,24) auf 74 %, für die Siedlung (Gewichtungsfaktor 0,22) ebenfalls auf 74 % und für die Gewässer (Gewichtungsfaktor 0,08) auf 65 %. Ziel der Landesregierung ist es, bis zum Jahr 2030 den anhand von Szenarien einer nachhaltig genutzten Landschaft abgeleiteten Zustand von 100 % zu erreichen.
Der Indikator stützt sich auf die Bestandsentwicklung von 43 Brutvogelarten, die repräsentativ sind für den Zustand der Hauptlebensraumtypen des Landes. Darunter sind Arten wie Feldlerche und Star für das Agrarland, Kleiber und Schwarzspecht für den Wald, Hausrotschwanz und Rauchschwalbe für die Siedlungen sowie Haubentaucher und Teichrohrsänger für die Gewässer. Mit einem Gesamtwert von 70 % für das Jahr 2022 ist die Artenvielfalt und Landschaftsqualität weit entfernt von dem Zustand, der dem Zielwert von 100 % für das Jahr 2030 entspricht, zumal ein fallender Trend über die letzten 10 Jahre zu verzeichnen ist. Das gilt auch für alle 4 Hauptlebensraumtypen. In der Agrarlandschaft finden zwar lokal und regional erfolgreich wirkende Maßnahmen wie Artenhilfsprogramme (beispielsweise für den Feldhamster), Vertragsnaturschutz, Agrarumweltmaßnahmen und ökologischer Landbau statt. Deren Umfang ist aber bislang zu gering für eine Trendumkehr. Vorherrschend ist vielmehr eine intensive Bodenbearbeitung, der konventionelle Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln und ein relativ geringer Anteil an extensiv genutztem Grün- und Ackerland. In den Wäldern wirken Maßnahmen wie der Waldumbau zu strukturreicheren Laub- und Mischwäldern partiell bereits positiv, für eine Trendwende reicht das indes noch nicht. Auch die Wiederbewaldung ehemals meist mit Fichten bestandener Kalamitätsflächen bietet Chancen für naturnähere Wälder. In den Siedlungen nimmt die Artenvielfalt besonders rund um Höfe und in den Dörfern ab. Günstig wird sich hier aber die seit Januar 2024 gültige Novelle der Landesbauordnung auswirken, nach der Schotterungen zur Gestaltung von Grünflächen („Schottergärten“) sowie Kunstrasen nicht mehr zulässig sind. Um die Artenvielfalt und Landschaftsqualität bei den oft durch Strukturdefizite, hohe Nährstoffeinträge, Dürre und störende Freizeitaktivitäten beeinträchtigten Gewässer zu verbessern, ist unter anderem die konsequente Umset zung von Maßnahmen zur ökologischen Entwicklung von Fließ- und Stillgewässern notwendig.