Moorfrosch im Naturschutzgebiet Fürstenkuhle © Petra Barwe / MUNV NRW

Themendienst Arten- und Habitatschutz NRW

Ausgabe: Mai 2021

Der Themendienst Arten- und Habitatschutz NRW wird erstellt und veröffentlicht von:

Dr. Ernst-Friedrich Kiel
Referatsleiter  III-3 | Natura 2000, Verträglichkeitsprüfungen, Energiewende
Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen

 

Im Rahmen des seit 2014 laufenden Vertragsverletzungsverfahrens (VVV) Nr. 2014/2262 „Umsetzung der FFH-Richtlinie“ hat die KOM am 18.02.2021 beschlossen, die Bundesrepublik Deutschland vor dem EuGH zu verklagen. Die Klageschrift wird in den nächsten Wochen eingereicht. Anschließend wird der EuGH diese dann an Deutschland übermitteln. Die Beantwortungsfrist wird erfahrungsgemäß etwa zwei Monate betragen.
Als Hauptkritikpunkte hat die KOM bereits im Februar 2020 in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme zum VVV benannt (siehe Themendienst 03.2020) und nun auch in einer begleitenden Pressemitteilung ausgeführt, dass:

  • die Erhaltungsziele allgemein und strukturell nicht ausreichend detailliert und gebietsspezifisch festgelegt seien,
  • für zahlreiche Gebiete die Erhaltungsmaßnahmen nicht in erforderlicher Weise festgelegt worden seien (Aufstellung von Maßnahmenplänen),
  • in Deutschland noch nicht alle FFH-Gebiete rechtlich gesichert seien.

Die KOM kritisiert sehr weitgehend die ihrer Ansicht nach unionsrechtswidrige Festlegung der Erhaltungsziele und der Erhaltungsmaßnahmen in Deutschland. Demgegenüber sind sich Bund und alle Länder darin einig, dass an der bisherigen gemeinsamen Rechtsposition festgehalten werden soll, wonach sich die Anforderungen der KOM nicht aus der FFH-Richtlinie ableiten lassen, wie auch in der Antwort Deutschlands an die KOM vom Juni 2020 deutlich gemacht wurde.

Zu den einzelnen Kritikpunkten der KOM lässt sich folgendes anmerken:

  1. Festlegung von Erhaltungszielen: Zentraler Kritikpunkt der KOM ist die vermeintlich allgemein und strukturell nicht ausreichende Detailtiefe (Quantifizierbarkeit) und Gebietsbezogenheit der Erhaltungsziele, die alle FFH-Gebiete in Deutschland gleichermaßen betreffe. Hierzu hatte Deutschland gegenüber der KOM bisher deutlich gemacht, dass die Erhaltungsziele für die Einzelgebiete aus deutscher Sicht keineswegs „quantifiziert“ und „messbar“ sein müssen, auch weil sich diese Anforderungen in keiner Weise aus dem Richtlinientext beziehungsweise entsprechenden EU-Dokumenten ableiten lassen. Über die alle FFH-Gebiete/Bundesländer betreffenden grundsätzlichen Ausführungen beziehungsweise Beanstandungen hinaus, geht die KOM auf systematische Mängel bei der Festlegung der Erhaltungsziele in Nordrhein-Westfalen nach bisherigem Kenntnisstand nicht ein. Zum rechtlichen Status der Maßnahmenkonzepte ist für Nordrhein-Westfalen – wie für die anderen Bundesländer auch – festzuhalten, dass diese als abgestimmte Fachplanung verbindlich für Behörden sind, jedoch nicht für private Dritte. Die Umsetzung von Maßnahmen auf FFH-Flächen privater Dritter erfolgt in Nordrhein-Westfalen – wie in anderen Bundesländern auch – auf freiwilliger, kooperativer Basis, beispielsweise über den Vertragsnaturschutz.
  2. Festlegung von Erhaltungsmaßnahmen: Ferner bemängelt die KOM, dass in Deutschland für eine große Zahl von FFH-Gebieten noch keine Erhaltungsmaßnahmen gemäß Artikel 6 Absatz 1 der FFH-RL (beispielsweise über integrierte Bewirtschaftungspläne oder Maßnahmenkonzepte) festgelegt seien. Die Frist für deren Festlegung beträgt 6 Jahre, das heißt für fast alle deutschen FFH-Gebiete ist die Frist nunmehr seit fast 10 Jahren abgelaufen. Von diesem Defizit betroffen sind die meisten Bundesländer sowie der Bund für Gebiete in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) in der Nord- und Ostsee. In Nordrhein-Westfalen wurden bis Ende 2020 für alle FFH-Gebiete entsprechende Maßnahmenkonzepte oder fachlich gleichwertige Planwerke erarbeitet. Für eine Reihe von FFH-Gebieten können letzte Abstimmungsschritte der Planerstellung – unter anderem pandemiebedingt – erst Anfang 2021 erfolgen. Die Zusage an die KOM (Erarbeitung von Plänen für alle Gebiete bis Ende 2020) konnte jedoch eingehalten werden.  
  3. Rechtliche Sicherung der FFH-Gebiete: FFH-Gebiete sind nach Aufnahme in die EU-Gebietsliste innerhalb von 6 Jahren nach nationalem Recht zu sichern (in Nordrhein-Westfalen in der Regel als Naturschutzgebiet). Diese Frist ist für die allermeisten Gebiete in Deutschland bereits 2009 (alpine Region) beziehungsweise 2010 (atlantische und kontinentale Regionen) abgelaufen. Derzeit sind mutmaßlich nur noch in Niedersachsen eine größere Zahl von Gebieten ohne umfassende rechtliche Sicherung betroffen. In Nordrhein-Westfalen ist die rechtliche Sicherung der FFH-Gebiete grundsätzlich abgeschlossen.

Fazit: Die Klage vor dem EuGH kann weitreichende Konsequenzen für die zukünftige Naturschutzpraxis in Deutschland haben. Sollte die KOM Recht bekommen, dass die Erhaltungsziele von FFH-Gebieten quantifizierbar und messbar sein müssen, und damit die Erhaltungsmaßnahmen letztlich ordnungsrechtlich festzusetzen sind, könnte dies ein Ende des bislang praktizierten kooperativen Wegs zwischen Naturschutz und Landnutzung bedeuten.

In einem Revisionsverfahren hat sich das BVerwG erstmals ausführlicher mit der Beurteilung von Stickstoffeinträgen in nach § 30 BNatSchG gesetzlich geschützte Biotope auseinandergesetzt. Im Ausgangsverfahren hatte sich das OVG Berlin-Brandenburg insbesondere gegen die Anwendung des „Leitfadens zur Ermittlung und Bewertung von Stickstoffeinträgen der Bund/Länder AG Immissionsschutz vom 01.03.2012 („LAI-Leitfaden“) in diesem Kontext ausgesprochen. Im Rahmen einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung einer Hähnchenmastanlage hatte die Genehmigungsbehörde auf der Grundlage des LAI-Leitfadens für die Prüfung von Stickstoffeinträgen in geschützte Biotope einen Abschneidewert von 5 kg N/ha*a zugrunde gelegt. Hauptkritikpunkt des OVG war die pauschale Berücksichtigung eines Abschneidekriteriums in dieser Größenordnung, unabhängig vom biotopspezifischen, empirischen Critical Load (CL) (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 04.09.2019, Az.: 11 B 24.16; siehe Themendienst 06.2020).
Im Rahmen der Revision hat das BVerwG nun festgestellt, dass das OVG die Zugrundelegung der mittleren CL-Spannenwerte, die Verwendung pauschaler Zuschlagfaktoren bei der Berechnung des zulässigen Beurteilungswertes bei geschützten Biotopen sowie die Höhe des Abschneidewertes in nicht zu beanstandender Weise kritisiert hat. In seiner Entscheidung erläutert das BVerwG ausführlich den eigenen methodischen Ansatz zur Prüfung von Stickstoffeinträgen in geschützte Biotope (vgl. RdNrn. 29 ff) und weist darauf hin, dass hinreichend genau zwischen Abschneidekriterium einerseits und Bagatellschwelle (oder Irrelevanzschwelle) andererseits zu unterscheiden sei.
Demzufolge ist das Abschneidekriterium ein absoluter Wert, der sich allein an der Messunsicherheit orientiert. Das BVerwG benennt hier den in der eigenen Rechtsprechung im Kontext mit der FFH-Verträglichkeitsprüfung anerkannten Abschneidewert von 0,3 kg N/ha*a. Er dient der Bestimmung des Einwirkungsbereichs einer geplanten Anlage und damit des Untersuchungsraums und -umfangs. Die Prüfung des Abschneidekriteriums ist systematisch der Prüfung von Bagatellschwellen vorgelagert und unabhängig von diesen zu ermitteln. Demgegenüber ist die Bagatellschwelle für Stickstoffeinträge ein relativer Wert, der in Abhängigkeit vom jeweils maßgeblichen CL und damit von der Stickstoffempfindlichkeit eines Biotops bestimmt werden muss. Auch in diesem Zusammenhang weist das BVerwG auf die eigene Rechtsprechung hin, nach der eine 3 %-Bagatellschwelle allgemein anerkannt ist, Zusatzeinträge von 10 % des CL hingegen keine zu vernachlässigende Bagatelle mehr seien.
Im Ergebnis kommt das BVerwG zu demselben Schluss wie das OVG Berlin-Brandenburg, dass der im LAI-Leitfaden als „Bagatellprüfung“ bezeichnete Abschneidewert von 5 kg N/ha*a viel zu hoch angesetzt ist. Eine derart hohe Stickstoffbelastung für ein (gesetzlich geschütztes) Biotop als irrelevant zu vernachlässigen, sei weder nachvollziehbar noch gerechtfertigt.

Der EuGH hat eine wichtige Entscheidung zur Anwendung des europäischen Artenschutzrechts getroffen, die Konsequenzen für das deutsche Artenschutzrecht haben könnte. In einem Vorabentscheidungsverfahren hatte ein schwedisches Gericht dem EuGH mehrere Fragen zur Anwendung der artenschutzrechtlichen Bestimmungen der Vogelschutz-Richtlinie (Artikel 5 V-RL) und der FFH-Richtlinie (Artikel 12 FFH-RL) vorgelegt.  Hintergrund hierfür waren Klagen von Umweltverbänden, die das Einschreiten der schwedischen Behörden gegen einen Kahlschlag in einem Waldgebiet forderten. Diese Art der Waldbewirtschaftung hätte zur Folge gehabt, dass Exemplare europäisch geschützter Vogelarten (u.a. Kleinspecht, Tannenmeise) und Amphibienarten (Moorfrosch) gestört oder getötet werden und Eier dieser Arten zerstört werden.
Hinsichtlich der Auslegung des Artikels 5 V-RL hat der EuGH klargestellt, dass sich der Anwendungsbereich der artenschutzrechtlichen Zugriffsverbote für die Vogelarten auf alle unter Artikel 1 VRL fallenden Vogelarten erstreckt – das bedeutet auf alle wildlebenden europäischen Vogelarten. Damit wurde der schwedischen Rechtspraxis eine Abfuhr erteilt, nach der die artenschutzrechtlichen Verbote nur auf solche Vogelarten beschränkt bleiben, die in Anhang I V-RL aufgeführt sind, oder die auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig sind. Im Vergleich zu Schweden dürften diese Ausführungen des EuGHs allerdings keine Auswirkungen auf die bisherige Rechtspraxis in Deutschland haben. Der in Deutschland geltende § 44 BNatSchG, mit dem Artikel 5 V-RL in nationales Recht umgesetzt wurde, knüpft die Anwendbarkeit der artenschutzrechtlichen Zugriffsverbote eben nicht an den Gefährdungsstatus oder die Seltenheit einer Art, sondern erstreckt sich richtlinienkonform auf alle europäischen Vogelarten.
Auch das in Nordrhein-Westfalen entwickelte Fachkonzept der „planungsrelevanten Arten“ – das vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mittlerweile mehrfach bestätigt wurde (siehe den hier vorliegenden 7. Themendienst weiter unten) – bleibt nach der Entscheidung des EuGHs weiterhin gültig. Nach der geltenden Rechtsprechung des BVerwG ist es sehr wohl zulässig, bei der Prüfung der Zugriffsverbote auf der Grundlage einer naturschutzfachlich begründeten Auswahl zwischen „planungsrelevanten“ und „nicht planungsrelevanten“ Arten zu unterscheiden. Dieser Ansatz erlaubt es eben ausdrücklich nicht, bestimmte Arten gänzlich unberücksichtigt zu lassen, sondern erkennt die Geltung der Zugriffsverbote für ausnahmslos alle europäischen Vogelarten an und stellt lediglich hinsichtlich der Dokumentation und Detaillierungstiefe der Prüfung differenzierte Anforderungen. Durch die Entscheidung des EuGHs zu Artikel 5 V-RL wird eine aufgrund naturschutzfachlicher Kriterien begründete Abschichtung der Prüftiefe, wie sie bei den „planungsrelevanten Arten“ zur Anwendung kommt, insofern nicht in Frage gestellt.
Problematischer könnte sich dagegen die strenge Auslegung des EuGHs zu Artikel 12 FFH-RL auswirken, dessen Anwendungsbereich sich auf die FFH-Anhang-IV-Arten bezieht. So hat der EuGH für die Beurteilung der artenschutzrechtlichen Zugriffsverbote nach Artikel 12 Absatz 1 a) bis c) FFH-RL einen streng auf das einzelne Individuum bezogenen Maßstab für maßgeblich erklärt. Von einer Verwirklichung des Tötungs- und Störungsverbotes ist also nicht erst dann auszugehen, wenn sich eine Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand einer Art auswirkt. Insofern muss die Prüfung dieser Verbotstatbestände das jeweilige Individuum und nicht die Population einer Art in den Blick zu nehmen. Dies gilt auch für das Verbot der Beschädigung oder Vernichtung von Fortpflanzungs- und Ruhestätten (Art. 12 Abs. 1 d) FFH-RL), das nicht erst dann Anwendung findet, wenn sich der Erhaltungszustand der betroffenen Art zu verschlechtern droht. Auswirkungen auf den Erhaltungszustand einer Art sind laut EuGH erst im Rahmen von Ausnahmeprüfungen nach Artikel 16 FFH-RL zu berücksichtigen.
Diese Auslegung des EuGHs zu Artikel 12 FFH-RL stellt zum einen die bisherige deutsche Ausgestaltung des Störungsverbotes (§ 44 Absatz 1 Nummer 2 BNatSchG) in Frage. Nach deutschen Recht ist das Störungsverbot erst dann erfüllt, wenn eine Störung so erheblich ist, dass sich durch sie der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert. Zum anderen steht die individuenbezogene Betrachtungsweise des EuGHs auch der artenschutzrechtlichen Regelung zur Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (§ 44 Absatz 4 BNatSchG) entgegen. Diese enthält eine Privilegierung für die forst- sowie land- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung, wonach die Bodennutzung nach der guten fachlichen Praxis nicht gegen die Zugriffsverbote verstößt. Diese Freistellung gilt so lange, wie sich der Erhaltungszustand der lokalen Population einer FFH-Anhang-IV-Art oder einer europäischen Vogelart durch die Bewirtschaftung nicht verschlechtert. In beiden Anwendungsbereichen dürfte die populationsbezogene Betrachtungsweise der Auslegung des EuGHs dem deutschen Artenschutzrecht entgegenstehen.
Fazit: Das Urteil hat unter Umständen Konsequenzen für die Umsetzung der artenschutzrechtlichen Bestimmungen der V-RL und der FFH-RL im deutschen Artenschutzrecht. Möglicherweise wird der Gesetzgeber das Störungsverbot (§ 44 Absatz 1 Nummer 2 BNatSchG) sowie die artenschutzrechtlichen Regelungen zur Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (§ 44 Absatz 4 BNatSchG) so ändern, dass der Bezug zum Erhaltungszustand der lokalen Populationen gestrichen wird. Denkbar wäre auch, dass die beiden strittigen Regelungen – wie auch beim Tötungsverbot – um ein Signifikanzkriterium ergänzt werden. Es bleibt also abzuwarten, wie das Urteil vom Gesetzgeber und den deutschen Verwaltungsgerichten aufgenommen wird. Bis auf Weiteres sollte die bisherige Verwaltungspraxis zum Artenschutzregime des § 44 BNatSchG beibehalten werden.

Im Zusammenhang mit einer Straßenplanung in Rheinland-Pfalz (B 239, zweite Rheinbrücke bei Wörth) hat sich das BVerwG wiederholt mit den Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung im Artenschutzrecht auseinandergesetzt. Nachdem ein Naturschutzverband diesbezüglich zunächst beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz erfolglos geklagt hatte (vgl. OVG Koblenz, Urteil v. 06.11.2019, Az.: 8 C 10240/18), ist der Verband nun auch mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vor dem BVerwG gescheitert. In diesem Kontext hat sich das BVerwG auch sehr grundsätzlich und ausführlich dazu geäußert, mit welcher Prüftiefe häufige und weit verbreitete Vogelarten im Rahmen einer Artenschutzprüfung zu betrachten sind. Im Ergebnis bestätigt das BVerwG erneut das nordrhein-westfälische Fachkonzept der „planungsrelevante Arten“.
Das BVerwG verweist in der Begründung (vgl. RdNrn. 16 ff) mehrfach auf seinen Beschluss vom 08.03.2018 (Az.: 9 B 25.17) zum geplanten Bau der B 474n/OU Datteln, in dem das Gericht seine Argumentation zu den Allerweltsarten erstmals ausführlich dargelegt hatte (siehe Themendienst 03.2019). In diesem Sinne erläutert das BVerwG, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen generell planungsrelevanten und sonstigen Arten – im Sinne der nordrhein-westfälischen Terminologie – um eine naturschutzfachliche Bewertungsfrage (und nicht um eine Rechtsfrage) handelt, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Planungssituation und den örtlichen Verhältnissen beantwortet werden muss. Letzten Endes ist dabei zu klären, mit welcher Methodik und Prüfungstiefe die unbestimmten Rechtsbegriffe – etwa der signifikanten Erhöhung der Tötungsgefahr – bei bestimmten Vogelarten anzuwenden sind. Das BVerwG weist darauf hin, dass die Unterscheidung nach „Allerweltsvogelarten“, die gruppenbezogen geprüft werden, und solchen, die einer Art-für-Art-Prüfung zu unterziehen sind, auf naturschutzfachliche Kriterien wie die Seltenheit und die Anpassungsfähigkeit einer Art abstellt. Des Weiteren betont das Gericht, dass hierdurch die „häufigen Vogelarten“ nicht etwa von jeder Prüfung befreit werden, sondern für diese nur eine geringere Prüfungstiefe vorgesehen ist.
Insofern entspricht die Unterscheidung nach Einschätzung des BVerwG der durchgängigen naturschutzfachlichen Praxis, wobei das Gericht hier sogar ausdrücklich die nordrhein-westfälische Verwaltungsvorschrift VV-Artenschutz (Stand Juni 2016) und die betreffende Anlage 1 Nr. 2 zu den „Planungsrelevante Arten“ zitiert. Im selben Atemzug bestätigt das Gericht schließlich auch die analoge Vorgehensweise des Mortalitäts-Gefährdungs-Index (MGI) für Vogelarten. Hier erinnert das BVerwG daran, dass es dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entspricht, dass solche Konzepte praxisbezogen weiterentwickelt werden.
Besonders erhellend ist, dass das BVerwG seine Entscheidung zugunsten der geringeren Prüftiefe bei den „Allerweltsvogelarten“ ausdrücklich auch im Lichte des schwedischen Vorlagebeschlusses vom 13.06.2019 (vgl. EuGH, Rs. C-474/19) zur Anwendung der artenschutzrechtlichen Bestimmungen der Vogelschutz-Richtlinie (Artikel 5 V-RL) getroffen hat. So stellt das BVerwG klar (vgl. RdNrn. 19 f), dass nicht erkennbar sei, warum die vorstehenden Maßstäbe gegen Europarecht verstoßen sollen. Mit Verweis auf den schwedischen Vorlagebeschluss betont das Gericht, dass es dort um eine andere Fallkonstellation geht, und zwar um pauschale Legalausnahmen, die bestimmte Vogelgruppen von vornherein von einer Artenschutzprüfung ausnehmen. Die Situation in Deutschland ist aber eine andere. So enthalten die Verbotstatbestände des § 44 BNatSchG keine Differenzierung – vielmehr sind im Grundsatz alle Arten artenschutzrechtlich zu betrachten. Die Vorschriften werden auch weder von der Rechtsprechung noch von der deutschen naturschutzfachlichen Praxis dahingehend ausgelegt, dass bestimmte Vogelgruppen von vornherein gar nicht unter Artenschutzgesichtspunkten geprüft werden.

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des FFH-Berichtes 2019 des Landes NRW (siehe Themendienst 10.2019) hat das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (LANUV) umfangreiche Änderungen der im Internet verfügbaren Liste der planungsrelevanten Arten in NRW vorgenommen. Aktualisiert wurden die Angaben zum landesweiten Erhaltungszustand der Vogelarten in der atlantischen (ATL) und der kontinentalen (KON) biogeografischen Region Nordrhein-Westfalens. Die Einstufung des Erhaltungszustandes erfolgt entsprechend der nordrhein-westfälische Verwaltungsvorschrift VV-Artenschutz (Anlage 1, Nr. 9) in die Wertstufen „grün“ (günstiger Erhaltungszustand), „gelb“ (ungünstiger/unzureichender Erhaltungszustand) oder „rot“ (ungünstiger/schlech¬ter Erhaltungszustand).
Erstmals bewertet hat das LANUV die Erhaltungszustände der „neuen“ planungsrelevanten Arten Bluthänfling, Star (beide ATL/KON „gelb“), Gänsesäger/Brut (KON „gelb“), Girlitz (ATL „rot“, KON „gelb“) und Kolbenente/Brut (ATL „gelb“). Eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes von „gelb“ zu „rot“ wurde beispielsweise für Flussregenpfeifer (ATL/KON), Kiebitz/Brut (ATL), Pirol (ATL/KON), Turteltaube (KON) und Wespenbussard (ATL) festgestellt; Verschlechterungen von „grün“ zu „gelb“ für Habicht (ATL), Nachtigall (ATL), Schwarzstorch (KON), Steinkauz (ATL) und Waldschnepfe (ATL/KON). Verbesserungen des Erhaltungszustandes von „rot“ zu „gelb“ konnten bei Löffelente/Brut (ATL) und von „gelb“ zu „grün“ unter anderem bei Heidelerche (KON) und Rotmilan (KON) festgestellt werden.

 

Seit dem Frühjahr 2020 verfolgt die UMK das Ziel, untergesetzliche Standards zur Vereinbarkeit von Windenergievorhaben an Land mit den rechtlichen Vorgaben zum Artenschutz zu schaffen. Durch bundesweite Standards und Vollzugshinweise soll eine naturverträgliche Ausgestaltung der Windenergienutzung im Einklang mit dem Natur- und Artenschutz ermöglicht werden. In einem ersten Schritt hat die Frühjahrs-UMK hierzu im Mai 2020 eine Handlungsempfehlung zur artenschutzrechtlichen Ausnahme bei Windenergievorhaben beschlossen (siehe Themendienst 06.2020). Im Anschluss daran wurde auf einer Sonder-UMK im Dezember 2020 dann eine Vollzugshilfe zur Signifikanz-Bewertung des Tötungsrisikos für Brutvögel an Windenergieanlagen („Signifikanzrahmen“) beschlossen (siehe Themendienst 01.2021).
Die UMK setzt den von ihr eingeleiteten Standardisierungs-Prozess im laufenden Jahr 2021 durch umfangreiche Aktivitäten fort. Auf Ebene der Umwelt-Staatssekretär*innen des Bundes und der Länder wurde eine koordinierende Lenkungsgruppe damit beauftragt, zu verschiedenen ungeklärten Detailfragen entsprechende Vollzugshinweise auszuarbeiten und der UMK regelmäßig über den Fortschritt der Arbeiten zu berichten. Eingerichtet wurden zunächst drei Unterarbeitsgruppen (UAG), in denen Beteiligte von Bund, Ländern sowie der Naturschutz- und Windenergieverbände folgende Themen inhaltlich bearbeiten:
•    UAG 1 „Repowering“: Anhand von Fallbeispielen sollen zuerst im Zusammenhang mit dem Repowering bestehende Genehmigungshemmnisse identifiziert werden, um auf dieser Grundlage geeignete Verfahrenserleichterungen für Genehmigungen, sowie verbesserte Rahmenbedingungen aufzuzeigen. Der Fokus liegt dabei auf den Auswirkungen und Chancen, die das Repowering für den Artenschutz mit sich bringt.
•    UAG 2 „Nutzung probabilistischer Verfahren für die Signifikanzbestimmung“: Die Probabilistik befasst sich als ein Teilgebiet der Mathematik mit der Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens eines Ereignisses. Dieser statistische Ansatz lässt sich gegebenenfalls für die Ermittlung und Bewertung des Kollisionsrisikos windenergieanlagenempfindliche Vogelarten nutzbar machen. Es sollen die fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen sowie Möglichkeiten und Grenzen für die Nutzung probabilistischer Verfahren zur Bestimmung des vorhabenbezogenen Risikos aufbereitet werden. Klärungsbedürftig sind insbesondere die Standardisierung der erforderlichen Eingangsdaten, der Erhebungsmethodik sowie der zu verwendenden Berechnungsmodelle.
•    UAG 3 „Herleitung von artspezifischen Schwellenwerten für die Signifikanzbewertung“: Vor dem Hintergrund der rechtlichen Anforderungen und der bestehenden Ansätze der Länder sollen geeignete Kriterien für die Festlegung von Schwellenwerten zur Signifikanzbewertung zusammengestellt werden. Auf dieser Grundlage sollen dann nach Möglichkeit konkrete artspezifische Schwellenwerte hergeleitet werden, die für einen konkreten Anlagenstandort eine Signifikanzbewertung des durch die WEA bedingten Tötungsrisikos im Verhältnis zum allgemeinen Tötungsrisiko gestatten. Klärungsbedürftig ist dabei unter anderem, inwieweit absolute oder relative Schwellenwerte definiert und inwiefern diese methodenunabhängig festgelegt werden können. Angestrebt wird die Vorlage eines konkretisierenden Fachpapiers bis zur Herbst-UMK im November 2021.  
Fazit: Innerhalb der UAGen sind der konkrete Arbeitsauftrag und die Zielsetzung mitunter noch nicht erkennbar. Auch durch die teils divergierenden Auffassungen der Beteiligten bleiben diese zum Teil nach wie vor im Unklaren. Aus diesem Grund sollte für den weiteren Prozess zunächst der Fokus auf die Feststellung der Ziele der jeweiligen UAGen gelegt werden, damit die wenigen Sitzungen bis zur Herbst-UMK effektiv genutzt werden können, um zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen.

Glasanflug stellt für Vögel einen bedeutsamen Gefährdungsfaktor dar. Vögel nehmen transparentes und spiegelndes Glas nicht als Hindernis wahr und verunglücken bei einem Anprall meist tödlich. Nach einer aktuellen Hochrechnung der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG VSW) dürften jährlich etwa fünf bis zehn Prozent aller im Jahresverlauf in Deutschland vorkommenden Vögel dem Glasanflug zum Opfer fallen. Vor diesem Hintergrund hat die Bund/Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA) die LAG VSW damit beauftragt, ein Verfahren zur Bewertung des Vogelschlagrisikos an Glas auszuarbeiten.
Der in diesem Zusammenhang von der LAG VSW im Februar 2021vorgelegte Leitfaden „Vermeidung von Vogelverlusten an Glasscheiben – Bewertung des Vogelschlagrisikos an Glas“ ist nun von der LANA zur Kenntnis genommen und den Ländern zur Umsetzung empfohlen worden.
Der Leitfaden stellt den aktuellen Kenntnisstand zum Ausmaß von Vogelschlag an Glas sowie wirksame Vermeidungsmaßnahmen zusammen. In dem Papier werden die Rahmenbedingungen für die Einschätzung des Kollisionsrisikos an Glas definiert sowie ein Verfahren zur Bewertung von Bauwerken oder Fassadenabschnitten vorgeschlagen. Das Bewertungsverfahren basiert auf Schwellenwerten für verschiedene Gebäudekategorien, ab denen von einem signifikant erhöhten Tötungsrisiko ausgegangen werden muss. Es gestatte eine differenzierte Einschätzung des Vogelschlagrisikos an Bauwerken oder Gebäudeteilen und bietet eine Entscheidungsgrundlage zu der Frage, ob Vermeidungsmaßnahmen ergriffen werden müssen oder nicht.

Der EuGH hat sich in einem Vorabentscheidungsverfahren mit der Definition von Fortpflanzungs- und Ruhestätten im Sinne der FFH-Richtlinie (FFH-RL) auseinandergesetzt. Diesbezüglich hatte sich das Verwaltungsgericht Wien mit mehreren Fragen zur Auslegung des Artikels 12 FFH-RL an den EuGH gewendet. Ausgangspunkt für das Verfahren war ein Rechtsstreit um Bautätigkeiten auf einem Grundstück, auf dem sich der Feldhamster (FFH-Anhang IV-Art) angesiedelt hatte. Bevor die Bauarbeiten in Angriff genommen wurden, ließ der Bauträger die Grasnarbe abtragen, den Bauplatz freimachen und in unmittelbarer Nähe der Feldhamsterbaueingänge eine Baustraße anlegen. Insbesondere das Entfernen der Grasnarbe sollte die Feldhamster dazu bewegen, auf benachbarte Flächen umzuziehen, die eigens geschützt und für ihn reserviert waren. In diesem Zusammenhang wollte das fragende Gericht unter anderem wissen, inwiefern der Begriff „Ruhestätte“ dahingehend auszulegen ist, dass darunter auch mittlerweile verlassene ehemalige Ruhestätten zu verstehen sind.
In seiner Argumentation bezieht sich der EuGH auf den „Leitfaden zum Strengen Schutz-system für Tierarten der FFH-Richtlinie“ der EU-Kommission (2007). Darin finden sich entsprechende Definitionen der in Artikel 12 FFH-RL enthaltenen, unbestimmten Rechtsbegriffe wie „Ruhestätte“, „Fortpflanzungsstätte“, „Beschädigung“ und „Vernichtung“. Hinsichtlich der Ruhestätten definiert der EU-Leitfaden diese als Gebiete, die für das Überleben eines Tieres oder einer Gruppe von Tieren während der nicht aktiven Phase erforderlich seien. Ruhestätten sind daher „auch dann zu schützen, wenn sie nicht ständig besetzt sind, aber die betreffenden Arten mit einigermaßen großer Wahrscheinlichkeit an diese Stätten zurückkehren werden“. Hieraus folgert der EuGH, dass Ruhestätten, die nicht mehr von einer geschützten Tierart beansprucht werden, dennoch nicht beschädigt oder vernichtet werden dürfen, sofern diese Arten zu diesen Stätten zurückkehren können.
Vor diesem Hintergrund hat der EuGH für Recht erkannt: Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe d FFH-RL ist dahin auszulegen, dass unter dem Begriff „Ruhestätten“ im Sinne dieser Bestimmung auch Ruhestätten zu verstehen sind, die nicht mehr von einer FFH-Anhang IV-Art beansprucht werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Art an diese Ruhestätten zurückkehrt.
Fazit: Das Urteil des EuGH bestätigt die nordrhein-westfälische Verwaltungsvorschrift VV-Artenschutz, in der sich eine entsprechende Begriffsdefinition zu den Fortpflanzungs- und Ruhestätten findet. In Anlage 1 (Begriffsbestimmungen zur Artenschutzprüfung) werden unter Nr. 5. (Fortpflanzungs- und Ruhestätten) verschiedene Fallkonstellationen beschrieben, die sich auf die zeitliche Dauer des Schutzes einer Fortpflanzungs- und Ruhestätte beziehen. Unter Bezugnahme auf den Leitfaden der EU-Kommission (2007) zum strengen Schutzsystem für Tierarten der FFH-Richtlinie wird dort für „standorttreue Tierarten“, deren Individuen zu einer Lebensstätte regelmäßig wieder zurückkehren, klargestellt: „Solche regelmäßig genutzten Fortpflanzungs- oder Ruhestätten unterliegen auch dann dem Artenschutzregime, wenn sie gerade nicht besetzt sind. Der Schutz gilt bei ihnen also das ganze Jahr hindurch und erlischt erst, wenn die Lebensstätte endgültig aufgegeben wurde.“

Das Umweltministerium NRW hat mit Runderlass vom 17.02.2021 den aktualisierten NRW-Leitfaden „Dienstanweisung zum Artenschutz im Wald“ eingeführt. Die erstmalig in 2010 in Kraft gesetzte Dienstanweisung wurde von 2013 bis 2017 durch eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Landesbetrieb Wald und Holz NRW, Dachverband Biologischer Stationen in NRW e.V., Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (LANUV) und dem Umweltministerium NRW überarbeitet.
In dem Leitfaden werden rechtliche, inhaltliche und methodische Aspekte sowie Verfahrensfragen und Zuständigkeiten zur Beurteilung von forstwirtschaftlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit den artenschutzrechtlichen Bestimmungen (§ 44 Absatz 4 BNatSchG), den gebietsbezogene Natura 2000-Schutzvorschriften (§ 33 Absatz 1 BNatSchG und § 34 Absatz 1 BNatSchG) und dem gesetzlichen Biotopschutz (§ 30 BNatSchG und § 42 LNatSchG) geklärt. Kernstück des Leitfadens ist eine „Positivliste“ derjenigen forstlichen Maßnahmen, die in artenschutzrechtlicher Hinsicht in der Regel als unbedenklich eingestuft werden können. Daneben werden in der Positivliste auch die gebietsbezogenen Voraussetzungen benannt, unter denen in Natura 2000-Gebieten und in gesetzlich geschützten Biotopen forstliche Maßnahmen in der Regel als unbedenklich anzusehen sind. Für die in der Positivliste aufgeführten Maßnahmen ist in der Regel kein naturschutzrechtliches Zulassungs- oder Anzeigeverfahren durchzuführen. Neu aufgenommen wurde in der Positivliste unter Nummer 22 aus aktuellem Anlass die „flächige Entnahme von Fichten infolge aktueller Kalamitäten (insbesondere Borkenkäferbefall)“.
Die Dienstanweisung ist für die Durchführung von forstlichen Betriebsarbeiten im Staatswald verbindlich. Im Rahmen der Betreuungsarbeit im Privat- und Kommunalwald ist sie sinngemäß anzuwenden. Darüber hinaus wird allen Waldbewirtschaftenden in Nordrhein-Westfalen die Dienstanweisung zur Anwendung empfohlen.